Vegan-Klischee ade

„Es gibt kritische Nährstoffe in jeder Ernährung“

Sich vegan zu ernähren und trotzdem mit allen wichtigen Nährstoffen versorgt zu sein – das ist heutzutage kein Hexenwerk mehr. Im Gegenteil: Statt Hokuspokus beschäftigen sich Wissenschaftler mit dem Thema Veganismus und machen es somit jedem leicht, seine Lebensweise zu ändern. Ernährungswissenschaftler Niko Rittenau (Foto: Tatyana Kronbichler) stellt die von ihm aus wissenschaftlichen Studien zusammengetragenen Erkenntnisse sowohl kostenlos auf seinem Youtube-Kanal als auch kompakt in seinem Buch „Vegan-Klischee ade!“ (Ventil Verlag) zur Verfügung. Im Interview spricht der Wahl-Berliner über die Vorteile einer rein pflanzlichen Ernährung, Nahrungsergänzungsmittel und Blähungen.

In Ihrem Buch räumen Sie mit Klischees über vegane Ernährung auf. Sollten wir uns alle rein pflanzlich ernähren?

Ja und nein. Die Welt muss im Jahr 2050 neun bis zehn Milliarden Menschen ernähren. Um dieses Problem zu lösen, gibt es mehrere Möglichkeiten. Eine davon ist der Veganismus. Das ist relativ leicht umzusetzen, es sind nur kleine Gewohnheitsänderungen nötig. Aber viele Menschen wollen das einfach nicht. Das akzeptiere ich. Jeder Schritt hin zu weniger Fleisch ist begrüßenswert und zukünftig wird Fleisch und Milch ohnehin unabhängig vom Tier produziert werden.

Wie geeignet ist eine vegane Ernährung zum Abnehmen?

Im Grunde gut. Aber man muss differenzieren. Was ich empfehle, ist eine vollwertig pflanzliche Ernährung. Soll heißen, unverarbeitete oder gering verarbeitete Lebensmittel wie Vollkorngetreide, Hülsenfrüchte, Obst, Gemüse, Nüsse, Samen und Algen. Diese haben einen hohen Ballaststoff- und Nährstoffgehalt. Man nimmt gut ab, fühlt sich fit, kann chronisch-degenerative Erkrankungen vorbeugen, zum Teil auch reversieren. Aber es gibt ja mittlerweile auch veganen Hot-Dog, Mayo, Donuts und Ähnliches. Das ist nicht viel gesünder als das klassische Äquivalent. Da hat man beim Abnehmen nicht viel gewonnen. Bei einer vollwertigen pflanzlichen Ernährung allerdings definitiv.

„Die meisten wissen mehr über ihr Smartphone als über ihre Ernährung.“

Niko Rittenau

Es gibt viele Belege dafür, dass eine vegane Ernährung die gesündeste ist. Warum ist das nicht weitestgehend bekannt?

Die rein pflanzliche Ernährung gehört definitiv zu den gesündesten Ernährungsweisen. Weltweit empfehlen Ernährungsfachgesellschaften eine überwiegend pflanzliche Ernährung für die Bevölkerung, die diese Empfehlung nur schlichtweg ignoriert. Dass trotzdem ein geringer Anteil an tierischen Lebensmitteln empfohlen wird, dient neben der Wahrung wirtschaftlicher Interessen auch schlichtweg daran, dass diese trotz einiger unerwünschter Stoffe einige teils kritische Nährstoffe zur Mischkost beitragen. Diese können auch rein pflanzlich zugeführt werden, man muss sich aber ein bisschen damit beschäftigen. Die meisten wissen aber mehr über ihr Smartphone als über ihre Ernährung.

Viele Menschen glauben, es sei unnatürlich, Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen, um die fehlenden Nährstoffe einzuholen.

Jede Fachgesellschaft der Welt wird sagen, dass die Nährstoffempfehlungen nahrungsbasiert zu verstehen sind. „Nehmen Sie mehr Vitamin C” heißt nicht, dass Sie mehr Pillen schlucken sollen, sondern, dass man beispielsweise mehr Paprika und Zitrusfrüchte essen soll. Aber ein Nahrungsergänzungsmittel ist besser als ein Nährstoffmangel. Es gibt kritische Nährstoffe in jeder Ernährung und tierische Produkte haben kein Monopol auf irgendeinen Nährstoff. Theoretisch kann man jeden einzelnen überlebensnotwendigen Nährstoff in einer veganen Ernährung bekommen, aber aufgrund der fehlenden Kenntnis, mangelnder Humandaten in der Wissenschaft und der schlechten Verfügbarkeit gewisser Lebensmitteln empfehlen wir vegan lebenden Menschen in Deutschland B12 zu supplementieren. Ebenso wie allen Menschen mit Jod angereichertes Speisesalz empfohlen wird und allen mischköstlichen Frauen Folsäure (B9) in der Schwangerschaft. Die Natürlichkeit einer Sache ist weder ein Argument für noch gegen etwas.

Hülsenfrüchte verursachen bei vielen Menschen Blähungen und Verdauungsprobleme. Was empfehlen Sie Menschen, bei denen das zutrifft, wenn diese sich vegan ernähren möchten?

Viele Ex-Veganer haben wieder angefangen, Fleisch zu essen, weil sie gedacht haben, dass es ihnen dadurch wieder besser geht. Das muss man ernst nehmen. Wenn man beim Verzehr von Hülsenfrüchten mit Flatulenz und Unwohlsein reagiert, ist das ein ziemlich gutes Anzeichen dafür, dass man ein Problem mit dem Verdauungstrakt hat. Man kann das Problem ignorieren und nur die Symptome behandeln, also keine Hülsenfrüchte mehr essen. Das wird aber an der Ursache nichts ändern. Ich empfehle die Grundproblematik wie beispielsweise die zugrundeliegende Dünndarmfehlbesiedelung zu behandeln umso in den gesundheitlichen Genuss einer veganen Ernährung zu kommen. 

Für den Soja-Anbau wird ziemlich viel Regenwald abgeholzt. Warum dürfen umweltbewusste Veganer trotzdem Tofu essen und Sojamilch trinken?

Ungefähr zwei Prozent der weltweiten Sojaernte werden für die menschliche Ernährung verwendet. Die anderen 98 Prozent gehen in andere Industriezweige. Allen voran in die Fütterung von Tieren aus der Intensivtierhaltung. Es ist also weniger der Tofu-Burger, der den Regenwald zerstört, sondern der klassische Rindfleisch-Burger, der mit Soja gefüttert wurde. Man kann also sagen, dass zum Teil deutsche Kühe am Amazonas grasen, denn daher kommt nämlich ein Teil ihres Kraftfutters. Zum anderen verwenden sowohl die kleinere deutsche Sojahersteller als auch die großen, internationalen, überhaupt keine Sojabohnen aus dem Regenwald. Der Großteil stammt aus Deutschland und den Nachbarländern und wenn überhaupt von weit her importiertes Soja zum Einsatz kommt, dann stammt dieses aus Kanada.

„Soja kann das Brustkrebs-Risiko reduzieren.“

Niko Rittenau

Angeblich soll Soja Brustkrebs verursachen. Stimmt das?

Im Gegenteil. Die Humandaten sprechen eine deutliche Sprache. Die meisten internationalen Krebsgesellschaften empfehlen sogar im Rahmen einer insgesamt vollwertigen Ernährung den Sojaverzehr, da Soja das Risiko für Brustkrebs reduzieren kann. Es gibt nur wenige private Organisationen weltweit, die das Gegenteil verbreiten. Deren Behauptungen basieren aber auf Zellkulturstudien und Tiermodellen mit Hochdosen an isolierten Soja-Isoflavonen. Beides kann so nicht auf den Menschen übertragen werden und die Humandaten zeigen das Gegenteil.

Warum leben Sie abgesehen von den gesundheitlichen Vorteilen vegan?

Für mich ist es eine Dreiecksbegründung: Ethik, Ökologie und Gesundheit. Die Tierproduktion hat noch vor dem Transportsektor den größten Anteil am Treibhauseffekt. Es geht außerdem um die Gefahr von Antibiotika-resistenten Keimen aus der Intensivtierhaltung, die Welthungerproblematik, die Arbeitsbedingungen der Menschen in der Industrietierhaltung und vieles Weitere. Wem Tiere egal sind, der sollte sich aus Nächstenliebe zum Menschen und unserer Umwelt dennoch überlegen, was er isst.

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